Der Stein des Anstosses
Im Anschluss an die Mitgliederversammlung 2025 unseres Vereins M.A.R.S. 2035 hatten die anwesenden Vereinsmitglieder die Gelegenheit, sich aus erster Hand über ein spannendes Thema aus dem Fachgebiet der Paläoklimatologie zu informieren und darüber, was wir daraus lernen können, wenn es um die Folgen des Klimawandels geht.
Es ging um den „Stein des Anstosses“, einen ca. 30 cm langer Basaltblock, den Dr. Hartmut Heinrich in den 1980er Jahren auf einer Forschungsreise im Nordatlantik entdeckt hatte. Heinrich hatte in Kiel im Fachgebiet Meeresgeologie promoviert und war mit geochemischen Prozessen am Meeresgrund vertraut. Deshalb fiel ihm ein ungewöhlich gefärbter Stein in einer Greiferprobe auf, als er sich zufällig an Deck des Forschungsschiffes befand. Der Geologe verhinderte, dass der Stein zurück ins Meer geworfen wurde und sorgte für dessen Untersuchung und für eine engmaschige Analyse der Meeresablagerungen, in die der von roten und schwarzen Oxidschichten bedeckte Stein, dessen wahre Farbe nur in der Mitte auf einem zwei Zentimeter breiten Streifen zu sehen ist, eingebettet war.

Quelle: Video Heinrich Events - Dr. Ulrich Kotthoff, Julia Pawlowski - Universität Hamburg - Lecture2Go
Heinrich-Ereignisse
Die Herkunft des Basaltbrockens (Island), die Ursachen der geochemisch bedingten Verfärbungen an seiner Oberfläche und die Verteilung an fossilem temperatursensiblen Mikroplankton in den Meeressedimenten führten zu bahnbrechenden Erkenntnissen. Heinrich publizierte sie 1988 und revolutionierte damit die damaligen Vorstellungen von den Eiszeiten.
Vereinfacht gesagt, gerieten während der letzten Eiszeit zunächst große Massen des Eisschildes über dem Nordpol, Kanada und Skandinavien ins Rutschen, weil der durch planetare Zyklen erwärmte Golfstrom sie von unten her an ihrer Basis anlöste. Sie glitten ins Meer und wurden dort zu Eisbergen. Die im Eis eingeschlossenen Steine und Sedimente wurden nach Süden transportiert. Als das Eis taute, sanken sie auf den Meeresgrund, darunter auch der „Stein des Anstosses“. Gleichzeitig blockierten die enormen Massen kalten Schmelzwassers den Golfstrom. Der dadurch ausbleibende Wärmenachschub führte innerhalb weniger Jahrzehnte zu erheblichen Kälteeinbrüchen. Das beweisen die den Meeressedimenten konservierten temperatursensiblen Mikroplanktonarten. Außerdem veränderte sich der ozeanische Chemismus, was die Verfärbungen auf dem Stein belegen. Doch damit nicht genug. Die schmelzenden Inlandeismassen ließen den Meerespiegel innerhalb weniger Jahrhunderte um mehrere Meter ansteigen. Anschließend kehrte das Meeressystem im Laufe der Zeit wieder zu seinem urprüglichen Zustand zurück. Insgesamt wurden sechs solcher Zyklen identifiziert, die sich in der Hauptphase der letzten Eiszeit ereignet haben. Sie wurden nach ihrem Entdecker „Heinrich-Ereignisse“ genannt.
Die überraschende Erkenntnis Hartmut Heinrichs zu Klimaveränderungen während der letzten Eiszeit war, dass das Klimasystem der Erde sehr viel dynamischer agieren kann als vorher angenommen und dass Wechsel von einem Klimazustand zu einem anderen in Jahrzehnten stattfinden kann, nicht nur in Jahrtausenden.
Was lernen wir daraus?
Nach dem Ende der letzten Eiszeit, während des rund 11000 Jahre andauernden Holozäns, in dem sich die menschliche Zivilisation in einem relativ stabilen Klima entwickeln konnte, waren die Bedingungen für Heinrich-Ereignisse nicht gegeben. Wir erleben jedoch seit einigen Jahrzehnten eine Phase, in der sich das Klima der Erde wieder sehr schnell erwärmt, noch viel extremer als während der „Heinrich-Ereignisse“, wenn auch aus anderen Gründen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass vergleichbare Phänomene in den nördlichen und südlichen Vereisungszonen erkennbar sind. Ein bekanntes Beispiel ist der Thwaites-Gletscher in der Westantarktis.

Quelle: Vortrag Hartmut Heinrich
Aktuellen Messungen zufolge schmilzt die Gletscherbasis durch vordringendes Meerwasser stärker und schneller als bisher vermutet, weshalb er seine „Bremsklotzfunktion“ für den viel größeren westantarktischen Eisschild bald verlieren dürfte. Gerät dieser dadurch ins Rutschen, wie bei den Heinrich-Ereignissen, wäre die Folge ein gegenüber bisherigen Prognosen erheblich beschleunigter Meeresspiegelanstieg um mehrere Meter. So wie es aussieht, ist der „Kipppunkt“ bereits überschritten.
Das hätte weltweit gravierende Auswirkungen auf nahezu alle Küstenregionen, in denen sich, anders als zur Eiszeit, viele Megacities mit all ihrer industriellen Peripherie und ihren Problemstoffen befinden. Überflutungen und Wetterextreme würden Migrations- und Kontaminationsprozesse bisher unbekannten Ausmaßes auslösen. In Norddeutschland müssen laufende Planungen von Küstenschutzprojekten vermutlich angepasst werden.

Prof. Dr. Hartmut Heinrich
Daran besteht kein Zweifel, denn inzwischen lässt sich archäologisch nachweisen, dass die Heinrich Ereignisse Wanderungs- und Zusammenbruchsphasen vorgeschichtlicher menschlicher Kulturen ausgelöst haben, als noch viel weniger Menschen auf der Erde lebten. Das ist keine abstrakte Theorie, denn die „Heinrich-Events“ waren real und ihre Auswirkungen sind nachweisbar, wenn auch die Ursachen der sie auslösenden Erwärmung andere waren als heute.